Milena Eberhard (Stadtbibliothek Uster) hat in ihrer Bibliothek die Geschlechter-Kategorien abgeschafft. Was hat das ausgelöst? da bux hat bei Milena Eberhard nachgefragt:
Wie kamen Sie auf die Idee, als Experiment die Geschlechterkategorien abzuschaffen?
Milena Eberhard: Als ich vor drei Jahren die Stelle als Verantwortliche Marketing/Veranstaltungen in der Stadtbibliothek Uster antrat, fiel mir sofort auf, dass wir neben Kategorien wie „Abenteuer“, „Freundschaft“ usw. auch die Kategorien „Mädchen“/“Jungen“ hatten. Dieser Umstand irritierte mich. Literatur bzw. Autor*innen können doch gar kein spezifisches Geschlecht ansprechen, da es die Rezipient*innen selbst sind, welche sich angesprochen fühlen oder nicht. Beim genaueren Hinsehen zeigten sich dann massive Unterschiede bei den Covers, den Inhalten, den Titelheld*innen. Welche Faktoren sind es also, die Verlage, Bibliotheken, Buchhandlungen mit Mädchen/Jungen verbinden? Da ich eine praxisnahe Masterarbeit schreiben wollte, bot sich ein Experiment an. Mein Ziel war, nicht mit blosser Theorie zu argumentieren, sondern im besten Fall aussagekräftige Zahlen zu generieren. Die These dahinter war, dass wir die Kinder/Jugendlichen mit solchen Kategorien und dem Gender-Marketing leiten und sie selbst eigentlich freier auswählen würden.
Was hat das Experiment ausgelöst?
Tatsächlich konnte belegt werden, dass Kinder und Jugendliche 20% häufiger ein „geschlechtsuntypisches“ Buch auswählen, wenn sie nicht wissen, dass es eigentlich ein „Mädchen-„/“Jungenbuch“ ist. Die Tendenz in den Zahlen zeigte zudem, dass sich der Effekt verstärkt hätte, wenn das Experiment länger gelaufen wäre. Für Uster war der Fall klar: Die Kategorien wurden sofort abgeschafft. Die Zahlen und die Entscheidung der Stadtbibliothek Uster lösten dann ein grosses Medieninteresse in der Schweiz und in Deutschland aus. Natürlich wurde schon vor meiner Arbeit darüber geschrieben, dass in Kinderbüchern veraltete Geschlechterrollen zu finden sind und die Pink-Blau-Trennung immer noch ein grosses Thema ist. Aber statistisch signifikante Unterschiede sprechen dann doch eine eindeutige Sprache.
Für mich ist die deutlichste Message des Experiments: Wir können Kindern und Jugendlichen deutlich mehr zutrauen, als wir denken. Sie können mit modernen Rollenkonzepten und Held*innen umgehen, die ein anderes biologisches Geschlecht haben.
Sie haben nun dauerhaft die Geschlechterkategorien abgeschafft. Wie reagierte Ihr Team darauf?
Zu meiner Freude wurde durchwegs positiv auf die Abschaffung reagiert. Die Kategorien scheint niemand zu vermissen. Von unserer Kundschaft habe ich Mails erhalten, in denen das Experiment als sehr wichtig und die Abschaffung als toller Schritt bezeichnet wurden. In den Medien hingegen gab es in Kommentarspalten einige negative Kommentare. Diese zielten darauf ab, dass man Mädchen nicht Mädchen sein lässt und umgekehrt. Die Angst vor mehr Toleranz und Diversität darf uns aber nicht hindern und gerade als Bildungsinstitution sollten wir mit einer modernen und offenen Haltung vorangehen.
Wünschen Mädchen nicht eher Protagonistinnen und Jungs Protagonisten, da
sie sich mit einem Protagonisten des gleichen Geschlechtes besser
identifizieren?
Historisch gesehen kann diese Annahme leicht entkräftet werden. Blicken wir zurück auf die Geschichte der Kinderliteratur, sehen wir, dass es immer wesentlich mehr männliche Protagonisten gab. Gleichzeitig sind aber Mädchen die motivierteren Leserinnen. Die männlichen Helden hielten sie also nicht vom Lesen ab. Das Problem mit der Identifikation erschaffen und verstärken wir, indem wir die Unterschiede zwischen den Geschlechtern so stark betonen. Wenn weibliche Heldinnen tolle Abenteuer erleben, lesen das auch Jungs gerne (Ronja Räubertochter, Rote Zora etc.). Da aber „typische Mädchenbücher“ vermehrt um den Alltag kreisen, erleben ihre Protagonistinnen logischerweise weniger Abenteuer als ihr Pendant.
Geschlechterkategorien ist das eine, stereotype Darstellungen von Mädchen
und Jungs ist das andere: Wäre ein Umdenken hierbei nicht noch viel
wichtiger?
Auf jeden Fall. Die Abschaffung der Kategorien ist ein erster Schritt. Die Bücher existieren aber noch. Das Gender-Marketing ist mächtig. Die Farbcodes (Pink und Blau) beeinflussen sowohl Kinder als auch Erwachsene. Eine Abschaffung dieser Art von Literatur oder Vermarktung zu fordern, grenzt aber an Zensur. Das kann nicht der richtige Weg sein. Vielmehr müssen interessantere Alternativen geschaffen werden. Hierbei hinken die männlichen Protagonisten mittlerweile sogar etwas hinterher. Es wurde versäumt, spannende und diverse Helden zu kreieren, wohingegen die Heldinnen immer mehr im Vormarsch sind.
Viele Bibliothekar*innen und Lehrpersonen suchen nach Ideen, Möglichkeiten, Strategien … um besonders Jungs zum Lesen zu motivieren. Was empfehlen Sie?
Die Jungs sind mittlerweile und stark durch die PISA-Studien zu unseren Sorgenkindern geworden. In der Forschung werden aber die gefälligen „Jungenbücher“ kritisch betrachtet. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer Kultur der Niederschwelligkeit. Will heissen, dass uns alles Recht ist, solange die Jungs überhaupt irgendetwas lesen. Diese Herangehensweise wird aber als wenig nachhaltig betrachtet, da diese Art von Geschichten oft mit Stereotypen arbeiten – der coole, faule und freche Junge z.B. In gemischten Klassenverbänden zeigt sich, dass die Lesepräferenzen sich durch die gemeinsame Lektüre immer mehr angleichen. Ich bin also wirklich fest davon überzeugt, dass wir Jungen und Mädchen viel mehr zutrauen können, als wir denken. Sie sollten mit möglichst unterschiedlichen Inhalten in Berührung kommen, sie dürfen auch mal irritiert werden.
Was erwiesenermassen einen grossen Effekt auf die Lesefreude von Jungen hat, sind männliche, lesende Vorbilder. Damit bekommt das Lesen eine positive Prägung. Darum: Brüder, Väter, Freunde, Cousins – lest euren Kindern vor!